Wilde Erdbeeren
Ingmar Bergman, Sweden, 1957o
A day in the life of a 78-year-old professor of medicine who is traveling with his daughter-in-law to an academic award ceremony and sees his life pass by on the way. The stages of the journey become a life review in dreams, visions and memories. As the old man encounters places and people from his childhood and youth, he recognizes with increasing clarity the cause of his mental hardening and finds reconciliation with himself.
Eigenartig. Ausgerechnet die legendäre Eröffnungsszene von Wilde Erdbeeren, in der ein alter Mann durch eine gespenstisch leere Stadt geht und einer Kutsche mit seiner eigenen Leiche begegnet, hat schlecht gealtert: schwerfällig die Symbolik, überdeutlich die Anleihen bei den Surrealisten der Stummfilmzeit, absehbar die Auflösung. Und doch gehört dieser Film über einen achtzigjährigen Professor, der mit seiner Schwiegertochter zu einer akademischen Ehrung fährt und dabei sein Leben an sich vorbeiziehen sieht, zu den grossen Würfen des schwedischen Grüblers, Betörers und manischen (Er)schaffers Ingmar Bergman. Von ur-bergmanscher Unerschrockenheit sind die Blicke in die Abgründe menschlicher Beziehungen und auf das Vertrocknen einer Seele durch kleine Akte von Eigennutz und Boshaftigkeit, zärtlich elegisch die Zeichnung von Kindheitserlebnissen und des Zaubers einer jungen Liebe – die wilden Erdbeeren des Lebens. Bergmann schwebte ein Film vor, in dem man sich unverhofft in einer anderen Zeit findet, wenn man eine Tür öffnet. Dies ist ihm mit traumwandlerischer Sicherheit und Gespür für kongeniale Mitarbeiter gelungen, allen voran sein begnadeter Kameramann Gunnar Fischer, der Schwarzweiss zum Leuchten brachte wie wenige, und Victor Sjöström in der Hauptrolle, der einst seinerseits ein grosser Regisseur war und von sich selbst als Witwer und weltmüder Whiskeytrinker spricht, wenn seine Figur redet. Ein Bekannter sagte Bergman, dass er nach dem Film sofort seine vereinsamte alte Tante zum Osterfest eingeladen habe. Bergman fand, das sei das schönste Feedback, das er je bekommen habe.
Andreas Furler