Genesis 2.0
Christian Frei, Maxim Arbugaev, Switzerland, Germany, 2018o
Three snapshots at three locations that reflect the profane everyday life and the boldest fantasies of of today's genetic engineering: In Boston, hundreds of teams present their ideas for perfecting flora and fauna at the annual meeting of genetic engineering students. In South Korea, deceased pets have long since been cloned by the running meter, and on a barren Siberian island, knights of fortune restlessly dig for tusks and other organic gold in the thawing permafrost, from which the mammoth can be awakened.
Ein klug gestalteter Film. Wir sehen ein Panorama sich auftun. Es reicht von alter Schöpfungspoesie bis zu den gut gelaunten Lebensingenieuren, die Hunde klonen und womöglich bald schon Menschen herstellen -- weil Gott nicht perfekt sei und Hilfe brauchen könne bei der Perfektionierung seiner Kreaturen. Und ja, ein wenig kalt wird einem beim Zuhören manchmal schon.
Christoph SchneiderGalleryo
Im neuen Dokumentarfilm von Christian Frei («War Photographer») gehts weit zurück in der Zeit und weit vorwärts: ins Uralte der Schöpfung, wohin die Erinnerung nur noch als Poesie oder als Paläontologie reicht, und in die Zukunft der Genetik, die schon lang nicht mehr an Gottes Zorn oder den Fluch gestörter Tiergeister glaubt.
Auf den Neusibirischen Inseln suchen Männer im schmelzenden Permafrost nach Mammutstosszähnen. Das schlechte Gewissen lastet immer auf dem mühseligen Geschäft. Wegen der Störung einer würdevollen Totenruhe. Andererseits muss der Mensch ja leben, und wirklich profitables Glück ist ohnehin selten. Einmal aber fand ein Suchtrupp ein ganzes, gut erhaltenes Wollhaarmammut, Zähne, Rüssel, Skelett und Fell, sogar Blut floss aus dem angetauten Fleisch. Die Paläontologen kamen grad noch rechtzeitig, um den Leichnam zu sichern, und nun steht im Mammutmuseum von Jakutsk ein lebensechtes Urvieh. Aber damit solls nicht getan sein. Man hatte seinerzeit Blutproben des Kadavers in Reagenzgläser gefüllt, aktive DNA womöglich, und das schürte gleich die Hoffnung, es könne so ein Wesen wieder ins Leben geklont werden.
Der Direktor des Jakutsker Museums denkt da an ein Mammutoriginal. Ein Molekularbiologe wie der Amerikaner George Church eher an einen kälteresistenten Hybriden aus Mammut und Arbeitselefant. So oder so: Diese Zukunft des Reproduzierens hat schon begonnen. In Südkorea klont die Firma Sooam Biotech sehr erfolgreich Hunde, 900 sind es bis jetzt, und ein Zweitklon ist jeweils im Preis inbegriffen. Am Pekinger Genomics Institute wäre man für das Projekt Mammut durchaus zu haben und denkt seinerseits an die Herstellung von Menschen. Weil Gott nicht perfekt sei und weiss Gott Hilfe brauchen könne bei der Perfektionierung seiner Kreaturen.
Entspannte Ethik
Ein klug gestalteter Film. Christian Freis Co-Regisseur war der jakutische Filmemacher Maxim Arbugaev. Der hielt es wochenlang in Kälte bei den Zahnjägern aus, während Frei durch die Labore der Lebensingenieure ging wie durch eine futurologische Geisterbahn. Ein Panorama tut sich auf – von archaischer Schöpfungsdichtung bis zu ein paar wohlgelaunten, ethisch entspannten Erben des Doktor Frankenstein. Und ja, ein wenig kalt wird einem beim Zuhören manchmal schon.
Die Zahl der Schweizer Dokumentarfilme hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Junge Regisseure entdecken die Doku als ideales Mittel für die heutige Zeit.
Sabine Gisiger poltert an die Tür. Es kommt ein erschöpftes Hallo, am Boden liegen geordnet Post-it-Zettel, auf denen Filmszenen notiert sind. Zwei Studenten sind in einem Schneideraum derZürcher Kunsthochschule gerade dabei, ihren Master-Film zu montieren, es geht um Männer, die nach Ende ihrer Haftstrafe von der Schweiz in die Türkei abgeschoben wurden. Im Nebenraum schneidet eine Studentin ihren Bericht über die paralympische Mannschaft der Ukraine, die mit der Besetzung der Krim ihre Trainingsanlage verloren hat. Die Studenten sässen monatelang an den Schnittplätzen, sagt Dokfilmprofessorin Gisiger. «Erstaunlich, nicht?»
Gisiger merkt in der Kunstschule, wie das Interesse amDokumentarfilm zunimmt. «In den letzten Jahren besuchten etwa sieben Studierende das Wahlfach Dok-Atelier, nun kommen doppelt so viele.» Auch die Zahl der Schweizer Kinodokumentarfilme steigt, wie das Bundesamt für Kultur jüngst ausrechnete: Von 2012 bis 2017 hat sie sich von 25 auf 49 pro Jahr verdoppelt. Dabei nahm auch der Anteil der Nachwuchs-Dokfilme kontinuierlich zu. Und: Mehr als 40 Prozent der Nachwuchsregisseure sind Frauen.
Das Problem der Emotionen
Klingeln bei Christian Frei, dem berühmten Schweizer Dokfilmregisseur, der gerade sein neues Werk «Genesis 2.0» ins Kino bringt. Ihm falle auf, dass Dokus immer mehr die Erzähltechniken des Spielfilms integrierten. «Vielleicht passiert das im selben Moment, in dem die Leute das Interesse an der Oberflächlichkeit der Fiktion etwas verloren haben und der Dokfilm in die Lücke springt.» Die ältere Generation der Schweizer Dokumentarfilmemacher habe in ihren Filmen zum Teil Thesen abgehandelt, sagt Frei. «Die Jüngeren versuchen eher, ein Lebensgefühl einzufangen. Sie haben auch weniger Angst vor Überhöhungen.»
Dokus als Gegenmittel zu Fake News und Filterblasen – dieses Argument ploppt in den Gesprächen oft auf. Für Christian Frei ist der Dokfilm das Antidot zur «posaunenden Gegenwart», für Sabine Gisiger stellt er sich der Komplexität der Welt. Allerdings laufen im Kino immer wieder einseitige Message-Filme zu Natur- oder Ernährungsthemen. Und müsste man gerade heute nicht klar zwischen Bericht und Inszenierung trennen?
Fred van der Kooij hat im Filmpodium Zürich eben eine Vorlesung zum Thema «Fiktionales im Dokumentarfilm» gehalten und kritisiert die Emotionalisierung der Form. «Es führt dazu, dass wir, auch wenn wir über Politik reden, immer öfter sagen: Das war wie in einer Filmszene. Es ist politisch verheerend, wenn Fakten und Fiktionales immer weniger voneinander unterschieden werden.»
Nachgeholfen hat der Dokfilm schon immer. Aber eine Ästhetik, die es dem Zuschauer erlaubt, die Arrangements mitzubedenken, müsse er noch finden, sagt van der Kooij: «Filmische Manipulationen treffen auf einen nach wie vor erstaunlich ahnungslosen Zuschauer.» Je einfacher es heute wird, die Realität zu stellen, desto wichtiger werde es, Techniken zu entwickeln, die Raum liessen für Reflexion – über die Welt, aber auch darüber, wie die Welt dargestellt wird.
Blick ins Ausland
Jüngere begegneten dem Dokfilm offener, sagt Filmwissenschafterin Marcy Goldberg. «Sie legen die Genres weniger fest und interessieren sich auch im dokumentarischen Kino für Inszenierungen, Experimente und Kniffs des Spielfilms.» Die 36-jährige Genferin Maryam Goormaghtigh hat für «Avant la fin de l'été» in Frankreich eine Clique von Heimweh-Iranern beobachtet, für sie aber auch Partybegegnungen mit jungen Frauen arrangiert und gefilmt, was darauf passiert.
Vielfach richtet sich die jüngere Generation mit ihren Filmen an ein internationales Publikum, denn Ruhm heisst heute: Festivalteilnahmen. Dafür geht der Blick oft ins Ausland. Die 35-jährige Nicole Vögele drehte ihren in Locarno ausgezeichneten Essay «Closing Time» rund um eine Garküche in Taipeh. Das Regieduo Mark Olexa und Francesca Scalisi stellt derzeit sein Material aus Bangladesh zusammen, wo es ein Mädchen begleitete, das zwangsverheiratet werden soll.
Durch die Digitalisierung wurden Kameras und Filmequipen kleiner; eine Schnittsoftware kann man sich heute auf den Laptop laden. Millennials finden im Dokumentarfilm aber auch deshalb das ideale Mittel zur Weltbeschreibung, weil sie ein Thema nach eigenen Ideen gestalten können. Recherchieren und reisen – macht man eh die ganze Zeit. In Szene setzen und stilisieren – gehört ebenfalls zum digitalen Alltag.
Auch international boomt der Dokfilm. Bei den Oscars erwartet man ein Rekordjahr bei den Documentary-Eingaben. Die Schweiz schickt «Eldorado» von Markus Imhoof an die Verleihung, das Werk gehört aktuell zu den zehn erfolgreichsten Schweizer Filmen 2018 – neben fünf anderen Dokus. Zugleich wird der Aufmerksamkeitskampf immer extremer: im Kino startet fast jede Woche eine neue Schweizer Doku. Und in der Zeit, in der sich die Zahl der Dokfilme verdoppelte, erreichten 70 Prozent weniger als fünftausend Zuschauer.
«Dokus werden sauberer»
Den Zulauf an der Kunstschule erklärt Sabine Gisiger unter anderem damit, dass im Netz dokumentarische Formen wie Webdocs enorm an Bedeutung gewonnen hätten. Das sieht auch Marcy Goldberg bei ihren Studenten in Luzern. «Die Kurzdokus von ‹Vice News› sind populär, etwa über den Neonazi-Aufmarsch in Charlottesville oder den IS.» Einen weiteren Grund für den Aufschwung laut Goldberg: Es gibt immer mehr Ausbildungsgänge für Dokumentarfilme. An der Hochschule der Künste in Bern wird seit 2016sogar ein CAS Dokumentarfilm angeboten. Man lernt dort, ein professionelles Projektdossier zu erstellen, um es etwa bei Förderstellen wie dem Bund einzu-geben. Es habe auch schon Teilnehmer gegeben, die persönliche Familien- oder Krankheitsgeschichten bearbeitet hätten, heisst es in Bern.
Filmstudenten möchten heute attraktive Geschichten erzählen, sagt Marcy Goldberg. «Früher hiess es, ein Dokfilm müsse unpoliert aussehen, damit er glaubwürdig sei, er zeige ja das Echte. Heute ist das umgekehrt: Dokumentarfilme werden sauberer, Spielfilme dreckiger.»