If Beale Street Could Talk
Barry Jenkins, USA, 2018o
After her fiance is falsely imprisoned, a pregnant African-American woman sets out to clear his name and prove his innocence.
Ein junges schwarzes Paar im New York der Siebziger, sie ist schwanger, er unschuldig im Knast. Nachdem er 2017 für "Moonlight" den Oscar bekam, hat Barry Jenkins einen Roman von James Baldwin verfilmt. Baldwin liest in den Blicken seiner Figuren, und damit in ihrem emotionalen Leben. Was zählt, macht er zu einer Sache des Sich-Anschauens und damit nachempfindbar: Das einzig Rettende ist Empathie. Ein Meisterwerk.
Philipp StadelmaierUnter James-Baldwin-Kennern gilt der Roman «If Beale Street Could Talk» als eine ziemliche Schnulze, aber gerade die Beschreibung einer intensiven Liebe hat Autor und Regisseur Barry Jenkins («Moonlight») interessiert: Er inszeniert zarte und allerfeinste Gefühlsszenen und verbindet sie doch mit der Wut über rassistische Zustände. Ein echter Jenkins, ein echter Baldwin. Für die Rolle von Tishs Mutter wurde Regina King als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet.
Pascal BlumTout ou presque s’y exprime en sourdine, y compris les coups les plus âpres, la passion la plus ardente et les échanges les plus malveillants, quand le montage, intensément soigné et sensuel, chaperonne une narration qui coule jusqu’à sa conclusion comme les volutes de cordes, cuivres et vibraphone filtrées qui l’accompagnent souvent.
Olivier LammGalleryo
Der beste Film des letzten Jahres kommt ins Kino: «If Beale Street Could Talk» nach James Baldwin.
Die ersten Bilder sind fast zu schön. Ein Paar spaziert durch den herbstlichen Park, sattes Gelb, coole Musik und eine ausgeklügelte Kamera, die die Protagonisten von oben erfasst. Dann gehen wir nahe ran. «Bist du bereit für das?», fragt sie. Er: «So bereit war ich noch nie.»
Oh ja, wir sind bereit für «If Beale Street Could Talk». Das ist der neue Film von Barry Jenkins, dem Regisseur, der mit «Moonlight» vor zwei Jahren dem Musical «La La Land» den Oscar weggeschnappt hatte. Das tat er mit einer in drei Episoden erzählten harschen Studie über einen jungen Schwarzen, der seinen Weg und seine sexuelle Identität sucht. Auch sie enthielt poetische Passagen. Aber die erste Szene des neuen Films ist so elegant, so altmodisch, so nahe am Kitsch . . .
Halt. Schnitt. Plötzlich sind wir raus aus der Herbstidylle. Der Mann – er heisst Alonzo, aber alle nennen ihn Fonny – ist jetzt im Gefängnis. War er für die Haft bereit, in der Frage vom Anfang, und nicht für die Liebe? Die Frau – die 19-jährige Tish – sitzt als Besucherin auf der anderen Seite der Glasscheibe. Die Rede ist von einem Kind, das sie erwartet. Und davon, dass sie ihn rausholen will, bevor das Baby auf der Welt ist.
Sie lieben sich, auch getrennt durch die Scheibe, das sieht man in jedem Blick der Hauptdarsteller KiKi Layne und Stephan James. Zur Bekräftigung halten sie zum Abschied die Hände aufs Glas. Aber bevor das filmisch richtig ausgekostet ist, gibt es einen weiteren harten Schnitt. Es folgen Schwarzweissfotos über die schauerlichen Haftbedingungen schwarzer Gefängnisinsassen in den USA. Dazu ein Kommentar, fein gedrechselt und doch knallhart. So, wie ihn nur James Baldwin schreiben kann.
Der erste englischsprachige Spielfilm nach James Baldwin
«If Beale Street Could Talk» ist die erste englischsprachige Kinoadaption eines Werkes des grossen amerikanischen Schriftstellers (1924–1987). Der Franzose Robert Guédiguian drehte zwar 1998 «Die Farbe des Herzens» nach James Baldwin. Aber sonst haben sich seine Nachlassverwalter stets dagegen gesträubt, Filmrechte zu vergeben. Das ist rückwirkend fast ein Glück, als hätte da jemand auf Barry Jenkins gewartet. Der hält sich einerseits sehr genau an die Vorlage (musste er auch, sonst hätte er die Geschichte niemals verfilmen dürfen). Aber er erzählt eben äusserst filmisch – manchmal scheint die Kamera minutenlang nur das Gesicht der Protagonisten zu betrachten.
Bissig-komödiantische Szenen in der Familie
Natürlich denkt man an Werke anderer, Wong Kar-Wai zum Beispiel; dieser Film könnte ebenso gut «In the Mood for Love» heissen, wie das Meisterwerk des Regisseurs aus Hongkong. Aber auch Douglas Sirk kommt einem in den Sinn, der in seinen Melodramen aus den Fünfzigerjahren wie «All That Heaven Allows» politische Geschichten erzählte, indem er das private Glück seiner Protagonisten ins Zentrum stellte. Das ist auch bei Barry Jenkins so: Es gibt die Liebe zwischen Fonny und Tish. Aber es gibt die Aussenwelt in diesem Harlem der Siebzigerjahre, in dem der Film spielt (die Romanvorlage erschien 1974). Und es fallen Sätze wie: «Jetzt verstehe ich Malcolm X, der sagte, der weisse Mann muss der Teufel sein.»
Politik. Liebe. Aber es gibt auch die Familie. Ein früher Höhepunkt des Films ist, wie Tish zu Hause die Nachricht ihrer Schwangerschaft überbringt. Zuerst der Mutter (wunderbar: Regina King, die dafür für einen Oscar nominiert wurde). Dann der Schwester, dem Vater. Und schliesslich der Familie ihres Partners, die teilweise entsetzt reagiert. Hier wechseln sich Beschimpfungen, Zärtlichkeiten, derbe Witze im Sekundentakt ab. Und zwar so virtuos inszeniert, dass man sich spätestens jetzt in diese Leinwand-«Beale Street» verlieben muss. Es ist der beste Film des Produktionsjahrs 2018. Und mit der fulminanten Vielpersonenszene beginnt er erst richtig.
Gut, Liebe macht blind. Aber auch dieses Gefühl bezieht der Film mit ein. Nach vielen überraschenden Wendungen gibt es eine Schlussszene, die dem nostalgischen Anfang entgegensteht. Sofort wird klar: Da wurden Kompromisse eingegangen, das musste sein, um in der Gesellschaft überleben zu können. Der Alltag hat also auch diese Liebe eingeholt. Aber es ist etwas entstanden, das Bestand haben könnte. Nennen wir es Happy-End.