Oliver Twist
David Lean, UK, 1948o
Oliver Twist, an orphan boy, grows up in a workhouse in the 1830s and flees from his apprenticeship with a coffin maker to London. There he falls in with a gang of teenage pickpockets led by the sleazy fence Fagin, who rules them with a carrot and a stick. After being arrested, Oliver is taken into the care of a wealthy old gentleman, but Fagin and his brutal accomplice force him back into a life of crime.
Zwei Jahre nach Great Expectations legte David Lean mit der Verfilmung von Charles Dickens wohl berühmtestem Roman nach und steigerte dabei die Expressivität seiner Bildsprache nochmals. Das Sozialdrama Oliver Twists, der von seiner dahinsterbenden Mutter in eine grausige Arbeitsanstalt für Verarmte hineingeboren wird, als versklavter Lehrling eines Sargmachers nach London türmt und dort in die Fänge des jüdischen Kinderbanden-Chefs Fagin gerät, spitzt er in der ersten Hälfte auf eine atemlose Folge fesselnder Szenen über die Ausbeutung und die mitleidlose Hackordnung in der englischen Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts zu. In kontraststarken, wunderbar geheimnisvollen Schwarzweiss-Bildern legt er zudem das Intrigenspiel über Olivers Abstammung an, bei deren Verschleierung sich ein halbes Dutzend dunkler Gestalten die Hand reicht. Von keiner späteren Verfilmung erreicht ist schliesslich Leans dynamischer Umgang mit der Londoner Unterschichts-Szenerie: fantastische Verfolgungsjagden durch verwinkelte Gassen, ein lebenspralles Saufgelage in einer Spelunke, schliesslich das Dachbodenreich des Manipulators Fagin, dem Alec Guinness gegen die haarsträubende antisemitische Überzeichnung seiner Physiognomie und Kostümierung Charme und maliziösen Humor verleiht: Reinste Komödie, wenn Fagin und seine Jungs Oliver das Diebeshandwerk beibringen, wortloses Musical, wenn die Bande die Bude voller Hehlerware in Windeseile räumt. Lean verdichtet Dickens epische Kunst, nicht zuletzt mit hinreissend rhythmisierten Dialogen, zum Knüller. Dass der rührige Titelheld zeitweise schier vergessen geht und das Finale reichlich pompös ausfällt? Geschenkt, wenn man zuvor so viel geschenkt bekommt.
Andreas Furler