All We Imagine as Light
Payal Kapadia, India, 2024o
In Mumbai, Nurse Prabha's routine is troubled when she receives an unexpected gift from her estranged husband. Her younger roommate, Anu, tries in vain to find a spot in the city to be intimate with her boyfriend. A trip to a beach town allows them to find a space for their desires to manifest.
Mehr als 300'000 Zuwanderer:innen vom Land kommen jedes Jahr in der indischen 20-Millionen-Metropole Mumbai an, erhoffen sich eine Bleibe, verdingen sich als Dienst- und Kindermädchen, Handlanger, Pflegerinnen. Drei von ihnen stehen im Zentrum von Payal Kapadias zweitem langen Spielfilm, mit dem die 38-jährige Autorenfilmerin aus Mumbai dieses Jahr als erste Inderin überhaupt den Jurypreis von Cannes gewonnen hat. Kapadias Trio gehört schon zu den arrivierteren Zuzügerinnen: die junge Anu und die einige Jahre ältere Pradha arbeiten als Krankenschwestern im gleichen Spital und teilen sich eine Wohnung, die älteste, Parvati, ist Köchin. Anu wehrt sich lebenslustig gegen die Verkuppelung durch ihre Eltern und trifft heimlich ihren muslimischen Liebsten, die gehemmtere Pradha weiss nicht, wie weiter im Leben, seit ihr Mann aus arrangierter Ehe nach Deutschland gezogen ist und sich nicht mehr meldet. Parvati schliesslich droht die Ausweisung aus der papierlos ererbten Wohnung. Ganz heimisch ist keine in der Grosstadt geworden, schliesslich werden die beiden jüngeren die ältere begleiten bei ihrer Rückkehr ins Dorf. Davor erzählt der Film so still wie stimmig aus dem Alltag der Frauen und lässt Manches auch klug in der Schwebe. Der Rhythmus ist beschaulich, doch jede der Szenen ergibt sich aus der präzis erfassten Lebenswelt der Frauen, aus ihrer Summe zwanglos das grosse kleine Drama der Existenzsicherung und der Selbstbestimmung. Eine zusätzliche künstlerische Dimension erlangt der letzte Akt, als die Frauen im Dorf eintreffen und jede ihren Weg auf ihr entsprechende Art geht. Den magischen Realismus, den die Regisseurin da in zwei atemberaubenden Szenen zwischen Tag und Traum riskiert, gehört zu den Höhepunkten des laufenden Kinojahres und ist den Preis von Cannes allein schon wert.
Andreas Furler